Deportation und Ermordung der Jüdinnen und Juden aus dem Reich

von Akim Jah

Nach Jahren der sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland, die vor allem auch das Ziel hatte, diese zur Auswanderung zu zwingen, schob der NS-Staat Ende Oktober 1938 ca. 17.000 Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit über die deutsch-polnische Grenze ab. Diese Aktion, die von den örtlichen Polizeibehörden umgesetzt und als Polenaktion bekannt wurde, stellte die erste gewaltsame Deportation von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus dar. In den Jahren danach organisierten SS und Polizei lokal begrenzte Deportationen, wie etwa im Februar 1940 die Verschleppung von Jüdinnen und Juden aus dem Regierungsbezirk Stettin nach Lublin. Im Oktober 1940 organisierte das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) die Deportation von etwa 7.000 Jüdinnen und Juden aus der Saarpfalz und Baden in das Lager Gurs in Südfrankreich. Diese lokal begrenzten Deportationen waren Ausdruck einer sich immer weiter durchsetzenden Vorstellung der NS-Machthaber, die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus dem Reich territorial zu lösen, also durch gewaltsame Abschiebung an die Peripherie des deutschen Machtbereichs. Entsprechend dieser Vorstellungen wurden im RSHA – letztendlich nicht umgesetzte – Pläne entwickelt, die jüdische Bevölkerung in Madagaskar, dem Generalgouvernement oder in der östlichen Sowjetunion zu konzentrieren und ihren Tod dort billigend in Kauf zu nehmen.

Die systematische Deportation aller im Reich noch verbliebenen Juden und Jüdinnen begann im Oktober 1941. Vor dem Hintergrund des Vormarsches der Wehrmacht in der Sowjetunion traf Hitler vermutlich Mitte September 1941 die Entscheidung, sämtliche Juden aus dem Reich „in den Osten“, das heißt, in die Ghettos im besetzten Mittel- und Osteuropa zu deportieren. Ziel war es zunächst, die jüdische Bevölkerung vor allem aus den großen deutschen Städten zu entfernen. Obwohl zu dieser Zeit bereits die jüdische Bevölkerung in der besetzten Sowjetunion durch die Einsatzgruppen ermordet wurde, war eine systematische Tötung der Deportierten aus dem Reich zu diesem Zeitpunkt noch nicht geplant. Die Entscheidung hierzu fiel erst kurz vor Jahresende 1941, wenige Wochen vor der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942, bei der Einzelheiten der Deportationen zwischen verschiedenen Stellen des Staates und der Partei abgestimmt wurden. Ab Frühjahr 1942 endeten die Transporte „in den Osten“ systematisch mit der Ermordung der Deportierten am Zielort, einige wurden zur Zwangsarbeit selektiert, was nur wenige überlebten. Der Zielort war ab November 1942 für alle „Osttransporte“ aus dem Reich das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Weitgehend nicht betroffen von den „Osttransporten“ waren Menschen über 65 Jahren. Diese, sowie Kriegsveteranen mit hohen Auszeichnungen und Prominente, deportierte die Gestapo ab Juni 1942 in das Ghetto Theresienstadt. Theresienstadt hatte die Funktion, die Ermordung der jüdischen Bevölkerung zu verschleiern. Die NS-Propaganda suggerierte, dass alte Jüdinnen und Juden dort ihren Lebensabend verbringen würden. Tatsächlich starben zahlreiche von ihnen an den katastrophalen Bedingungen dort. Ein Großteil wurde darüber hinaus in die Vernichtungszentren weiterdeportiert und dort ermordet.

Insgesamt deportierte die Gestapo rund 160.000 Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich. Nur sehr wenige von ihnen überlebten die Verschleppung. Die Transporte waren Teil eines beispiellosen arbeitsteilig organisierten Genozids, in dem rund 6 Millionen Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Etwa die Hälfte von ihnen wurde vor ihrer Ermordung deportiert. Die Deportationen waren daher ein zentrales Strukturelement nationalsozialistischer Verfolgungs- und Vernichtungspolitik.

Literatur

  • Birte Kundrus/Beate Meyer (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 20: Die Deportation der Juden aus Deutschland. Pläne-Praxis-Reaktionen 1938-1945, Göttingen: Wallstein, 2004.
  • Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945. Wiesbaden: Marix, 2005.
  • Akim Jah/Gerd Kühling: Die Deportation der Juden aus Deutschland und ihre verdrängte Geschichte nach 1945. Göttingen: Wallstein, 2016.
  • Henning Borggräfe/Akim Jah: Deportation in the Nazi Era. Sources and Research. Berlin/Boston: de Gruyter, 2023. Kostenlos herunterzuladen unter: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110746464/html

Dokumentensammlung zu den Deportationen:

  • Akim Jah/Marcus Gryglewski: „Ihre Grabstätten befinden sich nicht im hiesigen Bezirk.“ Quellen zur Deportation der Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus. Berlin/Leipzig: Hentrich&Hentrich, 2018. Kostenlos herunterzuladen unter: https://arolsen-archives.org/downloads/#education.

Das Titelbild wurde in Ludwigshafen aufgenommen. Es zeigt Jüdinnen und Juden unterschiedlichen Alters die mit ihrem Gepäck vor dem Schulgebäude warten. (Bild: MARCHIVUM KF 013153)

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Bilder der NS-Deportationen

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