Gewaltvolle Bilder zeigen und betrachten

Ethische Überlegungen zum Zeigen und Betrachten von Fotos der NS-Deportationen

Die Fotografien, die im Bildatlas und Spiel von #LastSeen veröffentlicht werden, sind in äußerst gewaltvollen Situationen entstanden. Ihre Veröffentlichung geht mit Verantwortung einher.

 

Die überwiegende Mehrzahl der Fotos wurden von den Täter:innen bzw. in ihrem Auftrag aufgenommen während die von den Deportationen Betroffenen sich dem Fotografiert-Werden in der Regel nicht entziehen konnten. Der Akt des Fotografierens war oftmals selbst ein Teil der Gewalt, die den Betroffenen angetan wurde. Das Betrachten der Fotos erfordert einen kritischen Blick, der sie als Beweise für die Gewalttaten erkennt, sich dabei aber auch bewusst ist, dass sie meist nur sehr kleine und von den Tätern ausgewählte Ausschnitte der Ereignisse zeigen. Gleichzeitig sind viele Fotografien die letzten Aufnahmen der  Betroffenen vor der Ermordung.

Zeugnisse der Verbrechen

So zeigt der Überlebende Lou Beverstein in einem Oral-History Interview in dem Visual History Archive beispielsweise ein Foto, das während der Deportation von Halberstadt nach Warschau am 14.04.1942 aufgenommen wurde. Lou Beverstein erkannte darauf seine Eltern, Hugo und Paula Beverstein, und vermerkte dies handschriftlich. Er und weitere Überlebende haben maßgeblich dazu beigetragen, dass einige der Fotografien überliefert und die Namen der darauf abgebildeten Betroffenen teilweise heute bekannt sind. Die Bilder sind dabei nicht nur aussagekräftige Quellen für die historische Forschung, sondern auch wichtige Zeugnisse der Verbrechen und Dokumente der Erinnerung an die ermordeten Menschen.  

Fernaufnahme der Deportation der Juden:Jüdinnen aus Halberstadt am 12.04.1942. Am Rand des Bildes ist handschriftlich vermerkt: „The man in front is our father. To his right our mother.“ Bild: Familie Beverstein
Digitale Darstellungen suggerieren Vollständigkeit

Lücken und Leerstellen

Die Sammlung, die im Bildatlas von #LastSeen veröffentlicht wird, ist in vielfacher Hinsicht unvollständig. Den Deportationen ging ein jahrelanger Prozess der Entrechtung, Diskriminierung und Verfolgung voraus, der auf den Fotos unsichtbar bleibt. Ebenso wenig zeigen die Bilder die Perspektiven der Betroffenen. Weder ihr vormaliges Leben als Teil der Gesellschaft, die sie im Nationalsozialismus ausschloss und verfolgte noch ihre Wahrnehmung der Geschehnisse sind in den Bildern enthalten. Weitere Leerstellen ergeben sich daraus, dass nur von einem Bruchteil der Verschleppungen in die Konzentrations- und Vernichtungslager aus dem „Deutschen Reich“ Bilder überliefert sind. Aus Großstädten wie Berlin oder Hamburg, aus denen zigtausende Menschen deportiert wurden, ist beispielweise keine einzige Fotografie bekannt, ebensowenig aus der Zeit nach 1943. Digitale Darstellungen suggerieren oftmals Vollständigkeit. Um diesen Eindruck zu brechen, haben wir Störkacheln in die Startseite des Bildatlas implementiert, die auf jene Leerstellen hinweisen.

Kontextualisierung und Transparenz

Das wesentliche Anliegen der Gestaltung des Bildatlas ist es, einen kritischen und nachdenklichen Blick auf die Fotografien zu fördern. So erscheinen die Bilder nur ausführlich kontextualisiert. Nutzer:innen können entscheiden, ob sie die Bilder markiert oder ohne weiterführende Annotationen ansehen. Die Markierungen auf den Fotos unterbrechen den Blick der Betrachter:innen und ermöglichen es ihnen, weitere Informationen zu den Bildinhalten aufzurufen. Ein Fokus liegt dabei auf den Namen und Biographien der als Juden und Jüdinnen, Rom:nja und Sinti:zze oder im Zuge der Krankmorden verfolgten Menschen. Wenn möglich werden außerdem Selbstzeugnisse und Fotos gezeigt, auf denen sie in ihrem Leben vor der Deportation zu sehen sind. In den wenigen Fällen, in denen Berichte von oder Interviews mit Überlebenden bekannt sind, werden diese ebenfalls gezeigt oder verlinkt. Darüber hinaus zeigen Annotationen zu Gegenständen wie beispielsweise Gepäckstücken, Fahrzeugen oder Schildern, welche Schlüsse diese auf die Umstände und Abläufe der Deportationen zulassen. Und auch die Täter:innen und Zuschauenden, die auf vielen der Bilder zu sehen sind, werden als solche benannt und falls bekannt, identifiziert.

Transparenz ist in der textlichen Beschreibung eine Leitlinie: Was wissen wir sicher? Was können wir auf welcher Grundlage vermuten? Was wissen nicht? Dabei ist es uns wichtig, auf die Recherchen und Arbeiten anderer Kolleg:innen zu verweisen, denen wir unser Wissen verdanken. Die Hinweise sollen die Nutzer:innen außerdem dazu anregen, sich eingehender mit den Fotos und den Ereignissen auseinanderzusetzen.

Einzelbildansicht im Bildatlas. Die Anmerkungen erklären Details in den Bildern. Hier beispielsweise die Rolle der Ordnungspolizei in Deportation.
Was bedeuten diese Bilder?

Die Verantwortung der Betrachter:innen

Die Gestaltung des Bildatlas kann dabei allerdings keineswegs abschließende Antworten auf die Fragen nach einer ethisch angemessenen Darstellung der gewaltvollen Fotografien der NS-Deportationen geben. Diese Fragen müssen immer wieder neu gestellt, reflektiert und letztlich auch von den Betrachter:innen mitbeantwortet werden. Dabei geht es um genaues Hinsehen, Reflektieren, Verstehen und Erinnern. Was bedeuten diese Bilder – historisch, aber auch im Hier und Jetzt und für uns als einzelne Betrachter:innen, aber auch als Gesellschaft?

Das Projektteam von #LastSeen bedankt sich bei André Raatzsch, Frank Reuter und Theresia Ziehe für die Unterstützung des Projekts durch die Diskussion ethischer Fragestellungen.

Zur weiteren Auseinandersetzung mit bildethischen Fragestellungen:

Kooperationsverbund #LastSeen.
Bilder der NS-Deportationen


Dr. Alina Bothe
Projektleiterin

c/o Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg
Freie Universität Berlin
Habelschwerdter Allee 34A
14195 Berlin

lastseen@zedat.fu-berlin.de

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